Istanbul – literarische Vorbereitung einer Reise
Sie ist nur 100 Jahr später gegründet worden als Rom, dessen östlichem Teil sie später sogar als Hauptstadt diente, einzigartige Stadt bis heute: als griechische Gründung Byzantion, unter Konstantin 330 n.Chr. zu Konstantinopel geworden, ab dem 15. Jahrhundert dann als Istanbul eines der Zentren des osmanischen Reiches….und bis heute eine Stadt der geschichtlichen und kulturellen Wunder. Keine andere Metropole auf unserem Globus vereinigt bis hin in die Gegenwart Tradition und Kultur von Okzident und Orient so vollkommen wie dieses riesige Stadtgebilde- Polis in Europa und Asien.
Rom ist römisch gegründet und so geblieben, changierend immer nur in der Bedeutung. Bis heute. Allenfalls ist ein Rückblick auf die griechischen Gründungen und etruskische Vorzeit sinnvoll. Istanbul aber ist das geschichtliche und kunstgeschichtliche, das architektonische und religiöse Kaleidoskop par excellence, in dem wir heute noch –in weiten Teilen ursprünglich, unverändert – in das Stadtbild einbezogene Spuren frühzeitlicher, antiker, christlicher, levantinischer und osmanischer (islamisch) Kulturen finden. Man muß sie nicht suchen, sie sind allgegenwärtig. Will der kulturgeschichtlich interessierte Reisende in eine solch gewaltige Umwelt eintreten, so sei eine gute Vorbereitung angeraten, ohne die Istanbul nicht richtig erfahren wird. Dies kann, sofern Wissenschaft nicht bemüht werden soll, durchaus ansprechend und umfassend durch moderne türkische Belletristik erfolgen. Einige Beispiele, denen ich wiederholt folge, sind hier vorgestellt.
Nedim Gürsel, Professor für türkische Literatur an der Pariser Sorbonne, ging erst kürzlich durch die weltweiten Medien: sein letztes Werk „Allah`s Töchter“ – nun auch in deutscher Sprache erschienen- soll religiöse Werte des türkischen Volkes verletzen, so die Anklage. Der Prozess hat begonnen, im droht eine hohe Haftstrafe, die Türkei entfernt sich mal wieder von Europa. Gut, dass er mit französischer Staatsbürgerschaft in Paris lebt.
Der Eroberer
Schon Marcel Proust hat Swann in der Suche nach der verlorenen Zeit als einen seiner Bewunderer geschildert: den außergewöhnlichen Sultan Mehment II, den Eroberer des christlichen Konstantinopels. So heißt denn Gürsels erster Roman aus dem Jahre 1995 auch schlicht Der Eroberer. Ein Schriftsteller verbringt mit Frau und Freunden einen Sommer in einer alten Villa am Bosporus. Er ist begeistert von seiner Heimatstadt Istanbul und von dem historischen Mehmet II, mit dem er sich nahezu besessen beschäftigt. Immer mehr vertieft er sich aus der Gegenwart in die Zeit des Sultans und schildert einen fast 500 Jahre umfassenden Zeitraum, bis er wieder bei sich und der Jetztzeit angelangt ist. Wir sind mit dabei, werden Teil der farbenprächtigen Welt osmanischer Sultansmacht und Sultanspracht.
Turbane in Venedig
Nedim Gürsel bleibt in der Geschichte, allerdings nicht mehr nur in Istanbul. Die Beziehung seiner Heimatstadt zur ewigen Konkurrentin Venedig steht im Mittelpunkt. Der türkische Professor Kamil Uzman hält sich zu Forschungszwecken in den Museen, Galerien und Bibliotheken Venedigs auf. Eine geheimnisvolle Reise durch die Welt der Renaissancemalerei, einfühlsame Verknüpfungen von Orient und Okzident. Und eine akzeptable Liebesgeschichte, ein Roman eben.
Ahmet Hamdi Tanpinar „Seelenfrieden“
Der Seelenfrieden gilt bei den türkischen Literaturinteressierten als Jahrhundertroman. Was den Italienern Ippolito Nievos Bekenntnisse, den Iren der Ulysses und Finnegan`s Wake und uns Deutschen vielleicht die Buddenbrocks oder der Josephsroman bedeuten. Kult sagt man heute. Der Autor (1901-1962), geboren und gestorben in Istanbul, angesehener Literaturwissenschaftler, Professor für moderne türkische Literatur an der Istanbul Universität, ein sensibler Autor, der zeitlebens die kulturellen Werte der osmanischen Tradition nicht aufgegeben hat, wiewohl er in der Zeit Kemal Atatürks und damit dem Beginn der modernen Türkei , aber noch nah genug an der traditionellen „osmanischen“ Türkei gelebt hat.
Der junge Historiker Mümtaz kultiviert eine geradezu besessene Beziehung zu der alten, vom Verfall bedrohten Sultansmetropole: zu ihren Bauwerken, zum voller abgelegter Dinge, zur Poesie. Als er Nuran kennenlernt, vereinen sich in dieser Liebe einen Sommer lang all die Elemente der osmanischen Kultur zu einem ästethetischen Ganzen, bis sein Studiengefährte und Rivale bei Nuran-Suat, todkrank- auftaucht. Er möchte alles Alte zugrunde richten und einen völlig neuen Menschen schaffen. Ein tödlicher Konflikt entsteht. Der Roman ist Beispiel für die teilweise innere Zerrissenheit Tanpinars, die Verwurzelung in der osmanischen Tradition, die er nicht loslassen wollte, die aber in der modernen Türkei Atatürks und seiner Nachfolger immer weniger Platz erhielt. Realliteratur, wie sie einnehmender und wissensvermittelnder nicht sein kann. Auch nach fast 60 Jahren ein Faszinosum.
Orhan Pamuk: sicherlich ist der 57-jährige Istanbuler Nobelpreisträger der im Westen bekannteste türkische Gegenwartsautor, auch er wie Nedim Gürsel von der Justiz wegen angeblicher staatskritischer Äußerungen angeklagt, gottseidank freigesprochen. Seine in Deutschland bekannten Romane Schnee, Die weiße Festung, Rot ist mein Name werde ich noch in Einzelrezensionen vorstellen. Zu diesem Thema aber dürfen zwei seiner Werke nicht fehlen, da sie sich intensiv um seine Heimatstadt drehen: Das schwarze Buch und Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt. Im Schwarzen Buch schafft Pamuk ein schillerndes Portrait seiner Stadt, die seit Jahrhunderten die Phantasie beschäftigt. Ein vielschichtiger, labyrinthischer Kriminalroman, ein mystisches Traktat, ein Märchen mit manchmal absurdem Humor.
Wir wandern mit dem Protagonisten auf der Suche nach seiner Frau tagelang durch Istanbul, begegnen Zuhältern, Dirnen, modernen Derwischen, Betrügern, Säufern, steigen in den Untergrund der Stadt hinab. Vor uns entstehen Bilder von den Sommervillen am Bosporus, wir riechen die Gewürze in den Basaren. Der Schluß sei nicht verraten, er ist raffiniert und verwirrend zugleich. Am Ende des Buches war ich mir nicht sicher, ob ich es selbst gelesen habe oder ob mir in einem Han ein Märchenerzähler (vielleicht Rafik Schami ?) die Geschichte erzählt hat.
In Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt bringt uns Orhan Pamuk mit Menschen und Orte zusammen, die phantasievoller nicht sein können. Der junge Orhan durchstreift erst an der Hand der Mutter oder im Dodge des Onkels, dann auf eigene Faust die Stadt, der er von Anfang an verfallen ist. Die Großfamilie lebt noch wie in osmanischen Zeiten unter einem Dach in den Pamuk Apartmani, während das ererbte Vermögen Vater und Onkel unter den Händen zerrinnt. Der Niedergang der einst so großartigen Stadt spiegelt sich in gewisser Weise in der allmählichen Auflösung von Pamuks Familie wieder. Entwaffnend ehrlich und melancholisch zugleich.
- auch als NDR-Lesung mit Ulrich Noethen
Zum Schluß möchte ich das romanhafte Istanbul verlassen und auf zwei Führer aufmerksam machen, die man unbedingt braucht. Leider ist der unvergleichliche Führer Istanbul von John Freely und Hilary Sumner-Boyd aus dem Jahre 1975 wie ja auch die gesamte Reiseführer-Reihe des Prestel Verlags nicht mehr erhältlich. Die Suche nach antiquarischen Ausgaben lohnt. Die beiden Autoren waren Professoren an der Bosporus Universität und wurden von zahlreichen türkischen Fachgelehrten unterstützt.
Hat man eine Ausgabe glücklich gefunden, so gibt der moderne Führer von Dorling Kindersley eine zeitgemäße Ergänzung ab und man ist für ein mehrtägiges Eintauchen in den gewaltigen Kosmos Istanbul bestens gerüstet.
- Istanbul · Geschichtlicher + Kunst – Reiseführer · Prestel Verlag München · ISBN 3-791-300989 · Vergriffen, Antiquariat
- Istanbul · Dorling Kindersley · Reihe Vis-a-Vis · ISBN 978-3-928044-29-5
Ein wissenschaftliches Standardwerk zur Geschichte der Osmanen ist das 1985 erschienene Werk des Historikers und Orientalisten Josef Matuz (1925-1992)-Das Osmanische Reich-Grundlinien seiner Geschichte. Matuz, zuletzt Professor in Freiburg, beschreibt den Aufstieg und Niedergang des Osmanischen Reiches bis zur Entstehung der türkischen Republik als abschließende Zäsur. Neben den Hauptfakten der politischen Geschichte finden in diesem klassischen Überblick auch die wichtigsten Perspektiven der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung wie auch Religion und Geisteshaltung des Islam Berücksichtigung. Die Darstellung richtet sich sowohl an angehende Islamwissenschaftler wie historisch interessierte Nichtorientalisten. Das Buch kann wegen seiner Karten, Übersichten und Tabellen sowie der ausführlichen Zeittafel auch als Nachschlagewerk benutzt werden. Ich nehme es immer wieder zur Hand, zur Vorbereitung einer Istanbulreise ist es allerdings nicht zwingend notwendig, aber sehr hilfreich.
Diesen Artikel habe ich am 08.Juni 2016 hier veröffentlicht. Nur 7 Tage später erreichte mich auf einer geschäftlichen Abendverstaltung in Barcelona der Anruf einer meiner engen Freunde aus Istanbul: „…. hier gibt es einen Putsch, einen Aufstand, Chaos herrscht, völlig unklare Lage…“. Seitdem gibt es die Türkei, wie ich sie liebe, nicht mehr. Das Chaos der Putschtage ist geblieben, größer geworden. Ich war danach noch 2, 3 mal in Istanbul. Veränderung im täglich Leben ist körperlich spürbar. Allerdings: was hat die Stadt nicht schon alles erlebt, überlebt. Den neuen Sultan wird sie sich noch vornehmen. In nächster Zeit werde ich die Stadt allerdings meiden. Zu groß das Risiko, auch als unbescholtener Deutscher,ohne politische Ambitionen, einfach festgenommen zu werden. Die sich stets mit dem Deckmantel vorgeschobener diplomatischer Zwänge umgebende deutsche Außenpolitik wagt es nicht, eine klare Reisewarnung auszusprechen, die aber bei den derzeitigen unrechtsstaatlichen Verhältnissen dorten notwendig ist. Unfassbar: da es aus der Not geborene Billigstangebote für die türkischen Feriengebiete gibt, nutzen immer noch zahlreiche Deutsche diese Urlaubsziele.
Ich war im April 2019 für eine Woche in Istanbul. Ausgerechnet bei einem Aufenthalt in Schottland kam die Idee. Dave- eine Schotte, der in den 70er Jahren nahezu jeden Gipfel der Welt „erstürmte“ und für die BBC als Kameramann tätig war, hat nicht aufgehört von der Stadt zu schwärmen. Die nächste Reise war geplant. Mein Eindruck war durchweg positiv. Eine derartige Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Politisch äußerte ich mich nicht, aber hörte zu. Es reichte in einem Obstladen in Beyoğlu eine Schale Beeren und einen Granatapfel zu kaufen- kurze Zeit später lernten ich und meine Freundin die Familie des Verkäufers kennen und tranken mit ihnen Chai- was sonst. Als im Fernseher der „neue Sultan“ auftauchte, stand der Vater auf und schaltete fluchend den Fernseher aus. Ähnliche Szenen spielten sich mehrmals ab- ich bleibe optimistisch. Auch diese Phase wird eines Tages überwunden sein.