Schellack Souvenirs – HiFi vor 100 Jahren
Anläßlich eines inzwischen alten Threads über High End HiFi und entsprechende High End Kabel hatte ich damals Bodo gesagt, daß ich sehr versucht war, provokativ ein Beispiel kabellosen und in meinem Fall auch Elektrizitätslosen, also akkustisch-mechanischen Musikgenusses zu posten: Das Grammophon! Da Bodo weiß, daß ich mich seit vielen Jahren intensiv mit historischen Gesangsaufnahmen beschäftige, machte er mir spontan den Vorschlag, eine eigene Rubrik dafür einzurichten. Hier ist sie nun!
Wer jemals eine gut erhaltene akkustische Schellackplatte einer Bassstimme mit einer „lauten“ Nadel über ein Trichtergrammophon gehört hat, der dürfte mir zustimmen, daß diese direkteste Art der Tonübertragung zu den eindrucksvollsten Klangerlebnissen zählt, die man sich vorstellen kann. Vollkommen natürlich und puristisch. Der Klang entströmt dem Trichter auf die selbe Weise, auf die er ihn einst auf die Platte gefunden hatte. Ohne Veränderung, ohne Filterung, ohne räumliche Effekte – vollkommen direkt.
Nur einen, zugegeben fundamentalen, Unterschied gibt es: es rauscht. Manchmal mehr, manchmal weniger. Das verstellt uns die Möglichkeit, im Dargebotenen eine immer wiederholbare Illusion künstlerischer Darbietung zu sehen und zwingt uns auf der einen Seite sich mit der Dokumentation selbiger Darbietung zu begnügen, sich andererseits aber auch der Tatsache bewußt zu sein, daß wir es mit einem festgehaltenen Stück vergangener Zeit zu tun haben. Allein das Rauschen am Beginn der Aufnahme, die aufgenommene Stille noch vor jedem Ton, zeigt uns die vergangene vergehende Zeit. Je wichtiger uns der Eindruck der Illusion ist, desto mehr kommt es darauf an, uns dieses Rauschen wegzudenken, es zu überhören und uns auf die Musik zu konzentrieren. Sehen wir aber den Wert der Dokumentation, dann wird es uns nicht stören können. Ob man nun in solchen alten Aufnahmen, nicht selten über 100 Jahre alt, einen Gewinn sieht, das hängt wesentlich davon ab, den Wert der Darbietung per se zu erkennen. Warum soll man sich heutzutage eine 100 Jahre alte Aufnahme Carusos anhören? Vielleicht nur, um zu hören, daß es heute niemanden gibt, der auch nur annähernd so singen kann, wie es Caruso konnte, aber vielleicht auch um uns auf diesem Weg über viele historische Interpretationen hinweg ein anderes vielfältigeres Bild von der dargebotenen musikalischen Literatur zu machen als es uns unsere Gegenwart zu bieten in der Lage ist?
Wenn wir uns heute Aufnahmen anhören, die vor 100 und mehr Jahren entstanden sind, dann muß uns bewußt sein, daß wir es mit Künstlern zu tun haben, die zum Teil berühmte Opern selbst uraufgeführt haben, ihre Rollen im unmittelbaren Umfeld der Komponisten erarbeitet haben oder von Sängern ausgebildet wurden, die bis weit ins 19. Jahrhundert zurück stilbildend waren, nicht zuletzt, weil Komponisten ihre Musik etwa „für“ bestimmte Sänger, also für einen bestimmten Stimmtyp verbunden mit bestimmten technischen Fähigkeiten, geschrieben haben. Wir kommen ein bisschen an die Wurzeln zurück.
Alle diese historischen Tondokumente geben uns die Möglichkeit, die Veränderungen von Interpretationen zu erkennen, denen die Interpretationsgeschichte klassischer Musikliteratur unterworfen ist und an denen sie im Idealfall wächst. Oder eben auch nicht und sich degenerativ zurückentwickelt.
Hören wir also alte Aufnahmen klassischer Musik und neue, dann überblicken wir in erster Linie stilistische Veränderungen eines nahezu beengt-kanonischen Repertoires, können aber auch hören, wie sehr sich etwa in der Veränderung des Repertoires auch Veränderungen des Gesangstils niederschlagen. Noch viel extremer läßt sich dieses Phänomen in der Unterhaltungsmusik wahrnehmen.
Ich möchte Euch deshalb in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder in die „Akkustische Vergangenheit“ entführen. In die Zeit der Schellackplatten, also etwa von der Jahrhundertwende bis in die Zeit um 1950. Mit Schellackplatten, aber auch hin und wieder mit Live-Ausschnitten oder Filmclips. Da es eine außerordentlich aktive Youtube-Szene von Schellackplattensammlern gibt, greife ich auf dieses Material zurück und spare mir, meine Schellackplatten oder Ausschnitte aus meinen LP/CD-Dokumentationen zu konvertieren.
Ich werde versuchen, nach Möglichkeit Aufnahmen auszuwählen, die technisch „erträglich“ und hörbar sind, Euch in einigen Ausnahmen dokumentarisch besonders bedeutender Aufnahmen aber auch die eine oder andere akkustische Geröllhalde (nach dem Motto „die berühmte Koloratursopranistin XY singt vor der Kulisse der Niagarafälle die Glöckchenarie“) zumuten.
Ich hoffe, daß Euch (zumindest den Klassikfreunden unter Euch) die Rubrik gefällt und fange mal mit einem Filmclip zur technischen Einstimmung an:„Two Sisters from Boston“ (1946) oder: „Who cares about the song, it’s the phenomenon! That’s what people want, the noise that comes out of a box!“ oder: der „späte“ Lauritz Melchior spielt sich selbst in seinen Anfängen… Viel Vergnügen!
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