Inmitten von Rauchkringel
Wenn einer eine Reise macht, hat er was zu erzählen… Aber erzählen will ich gar nicht viel, sondern vielmehr empfehlen! Und zwar einen Ausstellungsbesuch! Ich war wegen einer Opernpremiere ein paar Tage in Prag. Und Prag ist nicht nur die Stadt der Hochgotik und der barocken Dientzenhofer-Kirchen, nicht nur die Stadt vitaminarmer Fleischküche und gloriosester Biere und erstklassiger tschechischer Weine, Prag ist auch eine beeindruckende Stadt der Moderne.
Die erste tschechoslowakische Republik (1918-1939) war ein industriell hochentwickelter wohlhabender Staat mit einer extrem aufgeschlossenen modernen und eigenständigen Kulturszene, die ihre Wurzeln teils in den letzten Jahrzehnten der K.u.K. Monarchie durch eine Suche nach nationaler Eigenständigkeit hatte, teils durch Kulturtransfer mit Zentren wie Wien, Paris und Berlin. Das zeigt sich in der bildenden Kunst und in der Architektur, vor allem aber in der Musik: Leoš Janáček, Josef Suk, Bohuslav Martinů, Pavel Haas, Erwin Schulhoff, Alois Hába und Jaroslav Ježek, um nur einige zu nennen, das war bedeutende Avantgarde im Europa der 20er und 30er Jahre.
In Prag Holešovice steht der Messepalast, ein 1925-1928 im Stil der funktionalen Moderne erbautes Messezentrum, das nach einem Brand (1974) von der Tschechischen Nationalgalerie erworben wurde und nach minutiöser Rekonstruktion als Museum des 19., 20. und 21. Jahrhunderts dient. Dieses Museum, das auf seiner riesigen Ausstellungsfläche so ziemlich alle Bereiche kulturellen Schaffens dokumentiert, also nicht nur die bildende Kunst, sondern auch Architektur, Industrie- und Graphikdesign, Mode, Bühnenbild, Film und Photographie etc., dieses Museum ist eines meiner Prager Lieblingsmuseen, es ist eines der aufregendsten Schatzhäuser der Moderne!
Und als ich also dieses Mal auch wieder dort war, gab’s eine Überraschung für mich in Form einer Ausstellung mit dem Titel „Admidst Smoke Rings“ – Inmitten von Rauchkringel. Thema ist das Rauchen und die Bedeutung desselben für künstlerische Schaffensprozesse und ihre Visualisierung. Dass gerade das Pfeiferauchen hier eine zentrale Bedeutung hat, ist offensichtlich. Nun gibt es solche Themen immer mal wieder als Teilbereiche in Ausstellungen, aber ich habe noch nie eine Ausstellung gesehen, wo das nicht nur im Zentrum steht, sondern auch auf derart hohem Niveau und vor allem mit derart „kapitalen“ Kunstwerken thematisiert wurde.
Die Ausstellung ist thematisch auf einzelne Kabinette aufgeteilt, das erste befasst sich quasi als einleitende Grundlage kurz mit einem Überblick über die Darstellung des Rauchens in der „alten“ Kunst. Das erste Exponat, das der Besucher zu sehen bekommt, ist eine niederländische Genreszene von David Teniers aus der Mitte des 17.Jahrhunderts und es wird klar, was einen erwartet: hochklassige Kunst!
Ich will jetzt gar nicht die ganze Ausstellung nacherzählen. Nur ein paar Beispiele mit Fotos zeigen. Die Künstlerliste umfasst Namen wie Pierre Bonnard, James Ensor, Anselm Feuerbach, Bohumil Kubišta, František Kupka, Pablo Picasso, Edvard Munch, Alfons Mucha, Josef Sudek und viele Tschechische Künstler, die bei uns wenig bekannt sind.
Picasso ist einer der zentralen Künstler in der Ausstellung. Er ist mit einigen kubistischen Stilleben vertreten und einer kleinen Photographie mit einer Federzeichnung. Die Photographie von 1910 zeigt den Dichter Guilleaume Apollinaire im Atelier Picassos, mit dem er eng befreundet war, sitzend und „Pfeife rauchend“. Die Photographie ist so arrangiert, dass der „Rauch“, der aus der leeren Pfeife „aufsteigt“, aus einer Zeichnung Picassos gebildet wird, die hinter Apollinaire an der Wand hängt. Dieser „Zeichnungsrauch“ zeigt einen kubistischen Frauenakt! Mit diesem Beispiel ist das Kernthema der Ausstellung „Rauch – Gedanken – Kunst“ eigentlich ganz gut gezeigt. Die Zeichnung, die im Besitz der Tschechischen Nationalgalerie ist, hängt daneben.
Die kurzen Erklärungen zu den Exponaten sind in zweisprachigen Texttafeln verfügbar und geben dem Betrachter Hilfestellung. Hier gut zu sehen bei dem Holzschnitt Josef Váchals, einem Selbstportrait von 1919 mit dem Titel „Nicotiana“. Váchal war in gewisser Weise ein „Outsider-Künstler“, Maler, Schriftsteller und vor allem bedeutend als Drucker und Buchgestalter. Die Rauchkringel, die seiner Pfeife entsteigen, bilden eine kubistische Welt zwischen Symbolismus und Surrealismus.
Also kurz gesagt: Wer als Pfeifenraucher an Kunst interessiert ist, für den ist diese Ausstellung, die noch bis zum 8.Januar 2023 zu sehen ist, ein MUSS! Und vielleicht Grund für ein spontanes Wochenende in Prag?
Es soll laut Homepage der Tschechischen Nationalgalerie einen umfangreichen tschechisch/englischen Katalog geben, allerdings lag der letzte Woche noch nicht vor und man konnte mir nicht sagen, wann und ob er sicher erscheint. Übrigens: das Museum verfügt, unabhängig von der Ausstellung, über einen herausragenden Bestand kubistischer Picassos und Braques, darunter auch einige „ikonische“ Picassos wie das Selbstportrait von 1907 oder das ovale „Violine, Glas, Pfeife und Anker“ von 1912… Also auf nach Prag!
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