Am Auftritt zu erkennen – der Gentleman
Die Zeit ist schnelllebiger geworden, heisst es. Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns heute Beschäftigungen zueignen, für die wir mangels Qualitätsbewusstsein und – Qualitätswissen weniger Zeit aufwenden und der Grad des Überflüssigen oder Banalen, des Unwichtigen, stetig zunimmt und den Blick auf das Schöne, das Wichtige, das Bleibende und das Befriedigende verstellt ?
Man ziehe als Beispiel die Berieselungsmedien heran, die einen wesentlichen Anteil an der zunehmenden Volksverdummung und der Akzeptanz des schlechten Geschmacks als Norm haben, gelten doch Dschungelcamp, die GNTM – Geldscheffelei, die unzähligen Casting- und Gerichtsshows, in denen sich Mitmenschen hemmungslos in jeglicher Hinsicht entblößen, mittlerweile als Kulturgut. In das gleiche hirnentbundene Raster sind die Werbespots für Designermode und vor allem Designerparfüms zu rechnen, in denen ausdruckslose Drahtgestelle spastisch dahersstampfen oder besser dahereiern und andere sich rekelnd den Standardsatz “ a new fragrance for ….idiots“ mit teils unverständlichen Akzenten herausstossen. Geistige Heroen namens Bushido, Daniela Katzenberger, Pocher und Konsorten, Wendlers, Geißens und Xaver Nichtdu oder mein Liebling Barbarella Schöneberger schreiben ihre Memoiren, gelten als prominent und gesellschaftsfähig, so dass uns Jerry Cotton bereits als anspruchsvolle Literatur vorkommt. Und Lena Peinlich-Landei gilt bereits als Sängerin. Wenden wir uns ab.
Der Gentleman: Inbegriff des geschmackvollen, gebildeten und qualitätsbewussten Zeitgenossen, für den Bildung, Kultur, gutes Benehmen und ein ausgeprägtes Bewusstsein für Ausserordentliches mit hohem Bestandswert im Vordergrund steht. Und das betrifft auch Kleidung und Accessoirs in einer Güte, die in der Erwartungshaltung der sogenannten modernen Menschen kaum ein Echo mehr findet.
Aus diesem Grund sind für Connoisseurs, wie die, die hoffentlich hier im pfeifenblog.de lesen, Leitfäden wie „Der Gentleman“ von Bernhard Roetzel so erbauend.
Ich bin just wieder darauf gestossen, als sich Alec Molloy (Mitglied im Singapore Pipe and Cigar Smokers Club, wir teilen uns den gleichen Schneider 🙂 bei eben diesem einen englischen Covert Coat auf der Vorlage eines im Gentleman abgebildeten Modells beauftragte, Seite 195). Er führte die englische Vorgängerausgabe von 1999 mit und ich war davon begeistert. Natürlich ist sie längst vergriffen und selbst in Antiquariaten nur selten anzutreffen. Die gute Nachricht: es gibt eine Neuauflage von 2019, auch in deutscher Sprache.
Alec`s fachmännischer Rat:
„Ich komme nicht umhin, dem geneigten Leser eine Gebrauchsempfehlung für das Werk aufzudrängen:
Für den Morgen: nicht zu empfehlen, diese Lektüre ist dann doch zu desillusionierend, wenn man unvermeidlich seinem Aufsteh-Spiegelbild begegnet.
Am Nachmittag: geht gut mit einem Tee, Port oder Sherry. Nicht zum High Tea, da hier aufmerksame Konversation gefordert ist.
Am Abend: als Erbauungslektüre gegen die erlebten Widrigkeiten des Tages, kommt gut mit einem Single Malt, Pfeife und Tabak oder einer Havanna.
„Wird man nun durch Kleidung zum Gentleman“, fragt der Autor Bernhard Roetzel? Und gibt gleich die Antwort: „Ganz gewiss nicht. Dennoch ist Kleidung ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur. Dresscodes, Modehistorie und Stil-Ikonen zu kennen, bereichert das Alltagsleben, erweitert den Horizont in Sachen Stil und gibt Selbstsicherheit. Und es macht ganz einfach Spaß, sich mit Stoffen, Leder, Düften, Passform und schönen Dingen zu beschäftigen.“In diesem Sinne liefert Der Gentleman das vollständige Basiswissen über die klassische Herrenmode, enthält wertvolle Informationen über Einkaufsquellen, vermittelt Kompetenz für den souveränen Umgang mit Mode und macht Lust auf stilvolle Kleidung und Accessoires. Allein das Thema Tabak und die angeführten Pfeifenmodelle entsprechen nicht dem, was wir uns erwarten würden. Das ist lieblos und ohne Kompetenz geschrieben. Ein Wermutstropfen, über den die übrige Lektüre aber hinweghilft.
Bezug über den Buchhandel
Bernhard Roetzel
Der Gentleman – Handbuch der klassischen Herrenmode
- Herausgeber : h.f.ullmann publishing; 1., 2019 Edition (15. Februar 2019)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 408 Seiten
- ISBN-10 : 3848011867
- ISBN-13 : 978-3848011865
Alec Molloy: über einen gemeinsamen Ausflug nach Johor Bahru/ Malaysia
Alec Molloy: von Singapore über Paris nach München
Wem die Anhäufung derzeitiger sogenannter „Trendsetter“ mit weißen Turnschuhen zu dunklen Anzügen Überdruss oder gar Übelkeit bereitet dem sei dieses Buch zur abendlichen Erbauungslektüre, wie es oben schön heißt, empfohlen.
Getränk und Pfeife glätten dann die inneren Wallungen sicher noch weiter.
Gewiss, das Kapitel über Pfeifen ist kurz gehalten, aber es gibt da noch ein Kapitelchen zur eigentlichen Herkunft des Smokings, bevor er Gesellschafts-Jacke wurde.
Mit Augenzwinkern sei bemerkt, dass man diese frühe Variante ja wieder in einschlägigen Raucherlounges einführen könnte.
Notiz in der Morgenzeitung heute:
„Weiße Socke ist zurück“
Zwar erstmal nur zu sportlicher Kleidung…..
…aber vieles wiederholt sich ja.
Aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich bei Hochzeiten und ähnlichen Anlässen an ältere, eher ländlich geprägte Herren die zu schwarzem Anzug und blank polierten, schwarzen Schuhen weiße Socken trugen…..Gift für die Augen.
(Dagegen ist Denis Scheck fast schon wieder (skuril) stilvoll……)
Deshalb sei mal wieder auf das obige Buch verwiesen.