Luciano Valabrega | Puntarelle e Pomodori
Unter all den Dingen, über die wir unsere Herkunft, unsere Heimat und letztlich unsere Identität definieren, nimmt unser Essen einen ganz besonderen Platz ein. Dieser Platz ist meist ein angestrebter Wohlfühlort, ein andermal ein Sehnsuchtsort und vielleicht auch mal ein Entbehrungsort. Nicht selten ist unser Essen aber ein Erinnerungsort, der uns Genießer gleichsam zu kulinarischer Melancholie verleitet, etwa wenn wir bestimmte Gerichte so zuzubereiten suchen, wie es schon unsere Großmutter getan hat, und wir uns dann an die glücklichen Kindermomente an ihrem Küchentisch erinnern falls uns unsere retrospektive Zubereitung gelungen ist. Das Aneinanderreihen solcher kulinarischer Erinnerungsglücksmomente nennt man dann „Traditionelle Küche“ – entstanden durch kollektives Zusammentragen vieler jener Erinnerungen über Generationen hinweg und deren Austausch untereinander, unter Verwandten, Freunden, Nachbarn, Kollegen… „Traditionelle Küche“ ist in diesem Sinn als „kollektives Gedächtnis“ nachgeradezu das Gegenteil der modernen „Großen Küche“ und ihren Starkulten, bei denen individuelle Brillanz im Mittelpunkt steht.
Um eine solche „Traditionelle Küche“ geht es in dem Buch, das ich hier vorstellen möchte. Luciano Valabrega heißt der Autor, den ich, das muss ich der Aufrichtigkeit halber gleich offenlegen, persönlich kenne: er ist ein sehr guter Freund sehr guter römischer Freunde – und er ist Pfeifenraucher. Übers Pfeiferauchen habe ich ihn kennengelernt und schnell sind wir darüber hinaus aufs Kochen als weitere gemeinsame Leidenschaft gekommen. Irgendwann hat er mir dann sein Buch in die Hand gedrückt, das im Spätsommer 2015 in der wunderschönen „Salto“-Reihe bei Wagenbach erschienen ist. Der Titel des kleinen Buches lautet „Puntarelle e Pomodori“ und sein Untertitel verrät uns, worum es geht: „Die römisch-jüdische Küche meiner Familie“.
„Schon wieder ein Kochbuch“ könnte man jetzt denken und in der Tat ist „Puntarelle e Pomodori“ ein Kochbuch, aber es ist ein sehr außergewöhnliches Kochbuch, nämlich eines, das uns für all die bekannten und unbekannten Gerichte darin keine bloßen Bauanleitungen mit präziser Zutatenliste liefert, wie das Kochbücher im Allgemeinen zu tun pflegen, sondern das uns vielmehr von diesem inspirierenden Aneinanderreihen zahlreicher kulinarischer Erinnerungsglücksmomente erzählt. Auf diese Weise vermittelt es uns wie kein anderes mir bekanntes Buch das Wesen der römischen und der römisch-jüdischen Küche. Traditionelle Küchen nämlich lassen sich durch die Analyse in ihnen verbreiteter verarbeiteter Lebensmittel und Zubereitungstechniken nur recht unzulänglich charakterisieren: Es sind die „Werte“, die die Gerichte haben, ihr Stellenwert in der Abfolge der Jahreszeiten, im Alltag, in den Familien, im Wochenablauf, im religiösen Leben mit seinen Festtagen, zu denen nicht nur immer dieselben Heiligen verehrt werden sondern auch ebenso kanonisch immer das Gleiche gekocht oder gebacken wird. Alle diese Aspekte sind mindestens so bedeutend wie die Rezepte selbst, wenn wir eine „Traditionelle Küche“ verstehen wollen. Und genau das führt uns Luciano Valabrega mustergültig vor Augen. Wer dieses Buch liest, erfährt nicht nur, was man in Rom isst, sondern über den Tatbestand erreichten Wohlgeschmacks hinaus auch warum man es isst.
Luciano Valabrega begann vor Jahren, all die Rezepte niederzuschreiben – um sie nicht zu vergessen und um sie seinen Freunden, die er nicht selten zum Essen einlädt, weiterzugeben. Er teilt nicht nur großzügig seine Erfahrungen als hervorragender wie leidenschaftlicher Koch, er teilt auch seine Erinnerungen und gewährt uns so einen recht persönlichen Blick auf das Leben in Rom hauptsächlich in den 50er und 60er Jahren. Er macht uns gleichsam zu jenen Freunden, für die er das Buch, ursprünglich ohne jede Publikationsabsicht, geschrieben hat, was allein das kleine Buch schon ungemein sympatisch macht. Die so entstandene Rezeptsammlung ist, obwohl sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ein umfängliches Kompendium römischer Küche: sie umfasst die Festtagsgerichte, die sich heute auch auf den Speisekarten der Hauptstadt-Restaurants finden, ebenso das einfachste Alltägliche, wie die „Pizza Bianca“ oder die Pausenbrote der Kindheit.
In der Vertrautheit des ursprünglich intendierten Leserkreises liegt aber für den deutschen Leser, sofern er das Buch nur wie ein klassisches Kochbuch nutzen will, ein gewisses Risiko: In den Rezepten wird zwar präzise erklärt, wie man ein Gericht zubereitet, das Buch spart auch nicht mit Kniffen, wie man sich bei manchen Gerichten ihrer Perfektion annähern kann, aber es verzichtet vollständig auf Mengenangaben und präzise Zutatenlisten. Das erklärt sich aus der Intimität dieses ursprünglich intendierten Leserkreises, denn ein kulinarisch interessierter Römer weiß, wie seine „Klassiker“ im Prinzip gekocht werden. Der rein kulinarische Wert liegt hier in den Details, die bei manchen Gerichten sehr hilfreich sind und die man, vertraut mit der römischen Küche, sofort versteht. Will man dieses Buch also nicht nur lesen, sondern auch ganz normal als Kochbuch benutzen, sollte man zumindest in Grundzügen mit italienischer Küche vertraut sein. Dann wird man als Nachkocher keine Probleme sondern recht viel Freude haben!
Unter den Rezepten des Buches finden sich viele, die mit einem „*“ gekennzeichnet sind: das sind die Rezepte, die explizit jüdischen Ursprungs sind und in der jüdischen Tradition Roms bis heute einen hohen Stellenwert haben. Auch wenn manche unter diesen längst die Konfessionsgrenzen überwunden haben und über die Jahrhunderte hinweg auch unter der katholischen Mehrheit der Römer zur traditionellen Esskultur gehören. Essen, vor allem gutes und raffiniertes, verbindet. Das gilt auch für traditionell „katholische“ Gerichte, die mit einigen Modifikationen den Regeln der kosheren Küche angepasst werden können. Luciano Valabrega nennt auch diese ebenso traditionellen jüdischen Modifikationen, ist dabei allerdings sehr weit entfernt von jeglicher Orthodoxie. Der Geschmack steht im Mittelpunkt. Überhaupt wird in dem Buch klar, wie sehr die beiden Küchen-Traditionen miteinander verwoben sind und sich miteinander entwickelten. Nur bei ganz wenigen zeitgleich auftretenden „Konkurrenzprodukten“ wie etwa dem jüdischen Pessach-Gebäck und dem katholischen Oster-Gebäck bleiben die Konfessionen in ihrer jeweils eigenen Süßigkeit unter sich. Einmal hat uns Luciano mit einer Schale raffiniert trockenen Gebäcks überrascht, über das vor dem Verzehr Honig geträufelt wurde. Es waren die berühmten Pizzarelle d’Azzime, die ich da zum ersten Mal gegessen habe – ein Gebäck von absolut begeisternder Einfachheit und Raffinesse zugleich.
Meiner Meinung nach liegt die ganz große Stärke des reinen „Kochbuchs“ aber in den unzähligen Gemüse-Rezepten, die sich zwar auch als Beilage eignen, aber fast alle – manchmal mit ein paar kleinen „Bereicherungen“ – das Zeug zu eigenständigen Gerichten haben. Vieles schmeckt auch kalt am Folgetag noch großartig, etwa als kleine Vorspeise; ein Charakterzug, der der Alltagsküche aus Zeiten, denen der Überfluss fremd war, auf manchmal recht einzigartige Weise eigen ist. Unter den Gemüse-Rezepten ragen einige heraus, nämlich die mit Artischocken, und Luciano Valabrega macht keinen Hehl daraus, dass die Artischocke für ihn die Königin allen Gemüses darstellt. Da ich diese Leidenschaft für Artischocken absolut teile, möchte ich mit einer Leseprobe eines Ausschnitts aus dem Rezept für die „Carciofi alla Giudia“, die Artischocken nach jüdischer Art, schließen. Das Rezept ist sowas wie das „Flaggschiff“ der römisch-jüdischen Küche, es scheint banal, denn dahinter verbirgt sich ein recht einfaches Gericht: eine schlichte frittierte Artischocke. Aber wie so oft brauchen einfache, klare Dinge die größte Raffinesse und Erfahrung in der Zubereitung um wirklich gut zu sein. Der große Koch Vincent Klink hat mal sinngemäß gesagt, „ein Jakobsmuschelcarpaccio kann jedes Kind, aber einen anständigen Spätzleteig muß man können, das braucht viel Übung und Erfahrung“ – Recht hat er und hier ist es nicht anders. Das ganze Rezept umfasst etwas mehr als eineinhalb Seiten, aber in einem kleinen Absatz hat es Luciano wie folgt zusammengefasst:
„Es ist eine ungeheure Menge an Artischocken, die man jedes Jahr die Pflicht und das Vergnügen hat zuzubereiten. Die erste Artischocke aus diesem Berg zu putzen und zurechtzustutzen, das ist der Beginn der Arbeit. Die große, harte und kompakte Kugel der Cimarolo-Artischocke verwandelt sich durch Zauber in eine feine kleine weiße Kugel an einem zarten, doch robusten Stiel. Die große Schüssel voll Wasser mit Zitronensaft wird zu einem Gefäß voll seltsamer schwimmender Seerosenknospen, ihrerseits bereit, sich mit Hilfe des kochenden Öls in üppige offene Rosen mit zugleich weichen und knusprigen Blütenblättern zu verwandeln.“ Liebevoller kann man das nicht umschreiben – wie das genau geht, das wird präzise Schritt für Schritt erklärt.
Zum Titel noch: Pomodori sind Tomaten, das wissen Sie, bei den Puntarelle wird’s schon spezieller, denn das sind Zichorienstiele, die vom meisten Grün befreit werden, sich dann – der Länge nach eingeschnitten – in einer Schüssel Wasser zu wirren Locken eindrehen und abgetrocknet den römischsten aller Salate bilden. Dazu kommt eine Salatsauce aus Sardellenfilets und frischem Knoblauch, die zu einer fast cremigen Konsistenz fein gehackt werden, sehr gutes Olivenöl und Zitronensaft. Leicht bitter, leicht salzig, leicht sauer – der perfekte Einstieg in ein anständiges Abendessen.
Hier noch der Link auf die Verlagsseite, wo man das Buch auch bestellen kann – und natürlich in jeder anderen Buchhandlung ihres Vertrauens. Der Preis beträgt 17 Euro. Das Buch eignet sich auch sehr gut als kleines Geschenk…
Luciano Valabrega schreibt übrigens auch kleine Gedichte, für die aber mein Italienisch nicht immer ganz ausreicht, er malt und baut hin und wieder Pfeifen aus Hobbyblöcken. Dabei geht er immer recht skulptural vor – die Funktion ist ihm nicht das Wichtigste. Die für mich schönste Pfeife ist eigentlich gar keine, sie ist eher ein dadaistisch anmutendes Kunstwerk, das die Zeit beim Pfeiferauchen zum Thema hat. Wahrscheinlich würde er einen Kochlöffel ähnlich gestalten…
Mannometer, immer denke ich, es käme mir kein Kochbuch oder ähnliches mehr ins Haus, da diese Art Literatur in überreicher Anzahl vorhanden ist und ich ja sowieso überhaupt alles (besser) weiß, was mit Lebensart und Kochen und den notwendigen Produkten zu tun hat. 😀 Aber immer wieder werde ich schwach und schwächer. Nun dieses und ich habe es nicht einmal selbst entdeckt. Zwangsläufig muß ich Peter H jetzt überschwenglich danken, das Büchlein ist ein Volltreffer. Es zeigt mir meine zuvor behauptete Vollkommenheit in der Küche als persönliches Trugbild, zum Glück. Schafft sofort neue Herausforderungen, nicht nur bei der Puntarelle. Kein Kochbuch, sondern fast schon Philosophie- und Geschichtsbrevier in einem. Und erst die Rezepte! Irgendwie fühle ich, ich säße mit am Tisch, in Rom.
Servus Peter!
An dieser Stelle einen herzlichen Dank für die Vorstellung dieses kleinen Büchleins. Ich hab es mir inzwischen besorgt und schmökere mit Begeisterung darin. Als angenehmen Nebeneffekt betrachte ich, daß ich auf diese Weise auf die „Salto“-Reihe aufmerksam gemacht wurde, die mir als freischaffendem Banausen bislang unbekannt war. Der Verlag konnte seinen Umsatz nun drastisch erhöhen. Ich legte mir „Englische Exzentriker“ aus gleicher Reihe zu und verspreche mir ein schräges Lesevergnügen….schau`n mer mal…Es geht schon mal vielversprechend los…Ein gewisser Labelliere verfügte anno Tobak in seinem Testament, man möge ihn kopfüber begraben, weil ja die Welt Kopf stünde. Herrlich! Angesichts der Zustände Heutzutage denke ich über seine Idee nochmal ernsthaft nach…